Tagebuchgedichte - Aus dem Chinesischen und mit einem Essay von Wolfgang Kubin
Von Wang Jiaxin (Autor/in)., Wolfgang Kubin (Übersetzer/in). | 96 Seiten | Erschienen: 30. 11. 2023 | ISBN: 9783991140160 | 1.Auflage
Der chinesische Literat Wang Jiaxin (geb. 1957) wird von seinem Übersetzer Wolfgang Kubin in Österreich zum dritten Mal vorgestellt.
Bestellnummer: 4016040160
Portofreie Zusendung in Österreich und nach Deutschland!
Bisher als Dichter des Menschen, nun als Meister der Tränen und des Trostes. Der Poet, auch Übersetzer, Kritiker und Essayist in Peking, sieht in den Schrecken der Welt noch die letzten Möglichkeiten des Glücks. Es sind die kleinen lebendigen Dinge, die im Augenblick des allgemeinen Absterbens innehalten lassen. Wang Jiaxin ist ein europäischer Lyriker, der uns aus der chinesischen in die abendländische Historie des Leidens führt.
Inhaltsverzeichnis
Heidelberg. Philosophenweg
Randnotizen. Ein Zyklus
Fünf Uhr morgens
Vaters hinterlassenes Porträt
Abschied
In deinem Zimmer
Das erste Mal zur Bucht der steinigen Pflaume
Ein Penthaus in New York
Das Zwitschern der Sperlinge
Blick aufs Meer
Glühwürmchen der Kindheit
Zu Besuch in dem Dorf Dongkegu, wo Du Fu einmal weilte
Im Flieger
In Athen
Ein Hörensagen
In der Ägäis
Auf Santorinigibt es einen Baum
Paul Celan in der Bretagne
In einer weinenden Menge
Schneeflocken
Fußballplatz
Notizen von einer Fahrt in Wind und Schnee
Das Klavier von Harold Crane
Wahrheit
Fußeisen
Hannah Ahrendt
Vulkanisches Gestein in Datong
Kafkas Biographie neu gelesen
Allerseelen 2019
Nachtflug
Im Süden von Jiangxi
Jane Hierschfield
Fliegen
Bei Laotse daheim
Auf Dongtou
Die Laterne des Diogenes
Der Übersetzer Wu Ningkun im Jahre 1957
Kertsz Imre
Nachts im Garten der Hundert Gräser
British Museum in London
Herbst in der Gasse des Späteren Tempels der perfekten Gnade
Ich habe eine Stimme vernommen
Herbstende
Der Sommerpalast im Winter
Randnotizen. Ein Zyklus
Fünf Uhr morgens
Vaters hinterlassenes Porträt
Abschied
In deinem Zimmer
Das erste Mal zur Bucht der steinigen Pflaume
Ein Penthaus in New York
Das Zwitschern der Sperlinge
Blick aufs Meer
Glühwürmchen der Kindheit
Zu Besuch in dem Dorf Dongkegu, wo Du Fu einmal weilte
Im Flieger
In Athen
Ein Hörensagen
In der Ägäis
Auf Santorinigibt es einen Baum
Paul Celan in der Bretagne
In einer weinenden Menge
Schneeflocken
Fußballplatz
Notizen von einer Fahrt in Wind und Schnee
Das Klavier von Harold Crane
Wahrheit
Fußeisen
Hannah Ahrendt
Vulkanisches Gestein in Datong
Kafkas Biographie neu gelesen
Allerseelen 2019
Nachtflug
Im Süden von Jiangxi
Jane Hierschfield
Fliegen
Bei Laotse daheim
Auf Dongtou
Die Laterne des Diogenes
Der Übersetzer Wu Ningkun im Jahre 1957
Kertsz Imre
Nachts im Garten der Hundert Gräser
British Museum in London
Herbst in der Gasse des Späteren Tempels der perfekten Gnade
Ich habe eine Stimme vernommen
Herbstende
Der Sommerpalast im Winter
Das neue Tal der Tränen oder Dichtung als Trost für die unzulängliche Welt: Der Literat Wang Jiaxin. Ein kurzer Essay von Wolfgang Kubin
Das neue Tal der Tränen oder Dichtung als Trost für die unzulängliche Welt:
Der Literat Wang Jiaxin. Ein kurzer Essay
In den 50er Jahren hieß es bei »uns« noch: Indianer kennen keinen Schmerz oder Jungen weinen nicht. Zuvor lautete die Spruchweise: hart wie Kruppstahl. Der chinesische Eisenmann, anscheinend notwendig für das Militär und für den Aufbau, wird momentan all überall aus Peking propagiert, wohingegen die Medien des Landes einen Softie als Ideal präsentieren, den man viel eher auf den Straßen antrifft.
Heute sind »wir« weder »Indianer« noch gefallen »wir« uns im alten Sinne als tränenlose Kerle. Auch »wir« sind »Weicheier « geworden und den Tränen nicht mehr abhold. Betrachten wir diese Entwicklung von Wang Jiaxin, dem Philosophen der Tränen, her erhalten wir alle, ob Mann oder Frau, ob aus chinesischen oder aus deutschen Landen, vielleicht manch überraschenden Aufschluß.
Doch wann hat unsere Geschichte der Tränen begonnen? Mit dem auch in China so einflußreichen »Werther« und mit der Mode des »Kettenweinens«? Schon möglich, aber da ist noch mehr. Ich möchte meine Erklärungen als »Gegner der Moderne« vereinfacht etwas exemplarischer fassen.
Da ist die alte Geschichte der Zehren, welche den Frauen überlassen wurde, wir können sie die Erzählung der Klageweiber nennen. Das Elend der Welt war leicht einsehbar und entsprechend
leicht zu beweinen. Das Heil lag in eines Gottes Händen und durch Buße in einer scheinbar unzulänglichen Welt allgemein zu erreichen.
Die neue Geschichte setzte ein, als die Versprechungen der Moderne auf eine allumfassende Erlösung nicht mehr hielten und unnötig menschliche Tragödien heraufbeschworen. Die Sowjetunion ist hier das offenkundigste Beispiel. Innerhalb von nicht einmal einhundert Jahren steht die Welt dort, wo sie die alte vermeintlich sah: am Abgrund. Aber dieser wurde ein neuer, weil er unsere Seele ergriffen und alle restliche Zuversicht vernichtet hat. Wir spielen lediglich den unwilligen Zeitzeugen.
Wir wurden vom fern scheinenden Abgrund nicht befreit, der wurde uns unter anderen Vorzeichen immer näher gebracht und weiter vertieft.
Wir hätten darüber hinwegsehen können, wenn wir nicht bei unserer Beobachtung selber gealtert wären und umso mehr Einsicht gewonnen hätten. Nicht nur die amerikanischen oder russischen
Präsidenten haben abgehalftert, auch die anderen »Friedensfürsten«, die sich deren Nachfolge erhoffen, bevor die auf gemeinsame Anstrengung setzende Politik der Seidenstraße den
Erdball befrieden wird. Bis dahin sind wir sechzig–, siebzigjährigen Dichter bzw. deren Übersetzer längst oder hoffentlich schon tot.
Die Welt ist endlich, wir sind endlich mitten in unserem Traum, so traut deutsch, so englisch lautend »Forever Young« (1984). Doch was wollen, sollen wir in diesem neuen Tal der Tränen, so unvertraut wie unwillig? Wang Jiaxin führt uns poetisch durch dieses Tal, das Tal unserer Väter und Mütter, das zu unserem eigenen wurde trotz aller Beschwichtigungen. Man kann ihnen nicht in jedem Fall einen Vorwurf machen, sie folgten vor uns all den seltsamen Versprechungen ihrer Zeiten, um uns Aussichten und Hoffnungen zu hinterlassen, damit wir meinen, eines Tages besser leben zu können. Inzwischen hat sich bewahrheitet, was die Dichter früh prophezeiten: Gut leben, besser leben? Überleben ist alles.
Unser chinesischer Literatus, geboren 1957 in der Stadt Danjiangkou (Provinz Hubei), wurde mit seiner Übersiedlung nach Peking (1985) zum großen Reisenden. Neudeutsch: »On the road, on the road again« bestimmte seine Lebensweise. Dies gilt für Orte wie für Länder, zu denen auch vielfach deutsche Ziele gehörten und gehören, dies gilt ebenso für seine vielen Lektüren, die ihn inzwischen täglich zur russischen und zur sowjetischen Literatur gleichsam heimkehren lassen. Immer galt und gilt sein Interesse der leidenden Natur als Prüfstein seines Schreibens und Übersetzens, allen voran Paul Celan (1920–1970), den er gerade (2021) in einer voluminösen Ausgabe herausgebracht hat. Er ist bei seiner Tätigkeit nicht nur zum vielleicht wichtigsten Vermittler ausländischer Literatur des 20. Jahrhunderts in China, sondern ebenfalls zum Großen Leidenden geworden, zum Meister der Tränen.
Die Erinnerung steht bekanntlich am Anfang aller Literatur: Wir gedenken der Ahnen, der Familie und schließlich unserer selbst im noch betrachtbaren Leben. Wer sich erinnert, erinnert sich an die Vergangenheit, an die Zeiten als unglückseliges Kind eines vermeintlichen Großgrundbesitzers zum Beispiel, aber was ist mit dem Heute, das morgen ein Gestern ist? Hier bietet sich die Form des Tagebuchgedichtes an. Sie erlaubt den schnellen Rückblick auf das persönliche Leben, sie schenkt
eine Fülle von Gedankensplittern zum Werk und zur Existenz der leidenden Kollegenschaft. Dabei fällt hier vor allem der Verweis eines chinesischen Lyrikers auf, der unter den wenigen chinesischen Namen überhaupt mehrfach genannt wird: Du Fu (712–770). Dieser Große Weinende der chinesischen Literaturgeschichte verkörpert wie kein anderer die Nöte in Leben und Werk eines Autors.
So beginnt das Jahrhundert des Schmerzes schon 1200 Jahre früher in China, wir hätten also menschheitlich auf ein Jahrtausend der Betrübnis zurückzublicken? Wang Jiaxin geht noch weiter über diese Zeitspanne hinaus: Vergil, Ovid, Dante, ansonsten Homer. So ist die Geschichte der Menschheit eine Historie der Bitternis, jedenfalls vom Blickpunkt der Literatur her gesehen?
Wenn ja, was gereicht uns denn da zum Trost? Vielleicht die poetische Rede als ein Gang durch die Schrecken der Jahrhunderte? Aber da ist noch etwas anderes, welches immer wieder aufblitzt: die Kunst der kleinen Dinge. In ihr findet sich die Chance zur Tröstung.
Viele Gedichte von Wang Jiaxin sind meditativer Natur. Sie kommen einfach daher, erzählen schlicht eine Geschichte, an deren Ende etwas aufblitzt. Früher habe ich den Verfasser den Dichter des Menschen genannt, jetzt möchte ich ihn als den Dichter des Moments bezeichnen, des Augenblicks oder der Erscheinung. Etwas taucht auf, ein Fußball, ein Sperling, ein Freund, eine Schneeflocke und wird zum Gleichnis. In einer lärmenden Welt, die von sich als die beste aller Zeiten spricht, rät die stille Musik von Johann Sebastian Bach zum Moment des Innehaltens, besonders in der Deutung der Goldberg–Variationen (1741) durch den kanadischen Pianisten Glenn Gould (1932–1986).
Im Gegensatz zu mir, der ich ein »chinesischer« Dichter bin, ist Wang Jiaxin ein europäischer, ein »deutscher« Poet. Ich berufe mich eher auf die Traditionen Chinas, er dagegen auf die des Abendlandes, so schrecklich deren Entwicklung im 20. Jahrhundert auch gewesen sein mag. Chinesischen Gepflogenheiten gemäß befindet er sich seit 2020 in Ruhestand. Die bekannte Hochschule des Volkes (Renmin Daxue) erlaubte ihm bis dato den Unterricht zur Poetik/Ästhetik und die verdienstvolle Organisation von nationalen öffentlichen Lesungen wie internationalen Veranstaltungen. Eine Hörerschaft von fünfhundert jubelnden Studierenden und Schreibenden waren die Regel. Ich kam oft in deren Genuß, besonders einmal als »poet in residence«.
Wer in Peking, der umtriebigen Hauptstadt einer mannigfaltigen Poeterei, das hübsche Altenteil genießen darf, der arbeitet nur noch wenig, er genießt und ruht sich auf seinem Ruhm aus. Das ist bei unserem Jiaxin (Neues Heim) nicht der Fall. Er schreibt, übersetzt, theoretisiert (Übersetzung als Erkenntnis, 2017) weiter. So stellte er mir am Vorabend seines Ruhestandes Ende Dezember 2019 ein Konvolut von 145 Seiten zusammen und bat um meine Auswahl. Das erste Gedicht trug die Jahreszahl 1987, die letzte Datierung stammte vom 14. Dezember 2019. Da ich aber den Dichter schon zweimal in Österreich (Thanhäuser:; Bacopa: ) herausgebracht hatte, entschied ich mich
für die von mir bislang nicht vorgestellte Periode: Meine Übersetzung begann mit dem gewaltigen Text (2017) zu Heidelberg (Konvolut, S. 62) und fuhr bis zum Ende (S. 145) fort (2019). Da ich zum Autor und Übersetzer bereits viel geschrieben habe, füge ich hier keine Bibliographie an. Man möge meinen weiterführenden Werkartikel in der digitalen Ausgabe von Kindlers Literaturlexikon einsehen (2020).
Dank bin ich Österreich zum dritten Mal und insbesondere Walter Fehlinger (Bacopa) zum zweiten Mal schuldig, denn ohne seinen Ansporn wäre diese dritte Übersetzung unseres »Pekingers « auf mein Altenteil verschoben worden. Dieses steht aber noch lange aus.
Mein letztes Bild von Wang Jiaxin auf Lesetournee mit mir (wohl im Herbst 2017): Er, erschöpft in Trier angekommen, ich lebenslustig. Wir auf dem Weg zum Geburtshaus von Karl Marx, er flucht, weil ihm der Fußmarsch von der Porta Nigra zu lang erscheinen will. Dann sein strahlendes Gesicht: Wir dinieren in einer exzellenten Weinstube gegenüber dem Kultort der Chinesen. Und er rennt plötzlich beschwingt herum und photographiert. Ich sitze lange allein mit meinem guten Moselwein. Ein geglückter Tag ohne Tränen, doch für uns beide galt weiterhin bei lokaler Speise, was Rio Reiser einmal kurz und bündig gesungen hat: Ich habe nachgedacht.
Wolfgang Kubin an der Universität Shantou
am Sonntag, den 18. Juli 2021
Das neue Tal der Tränen oder Dichtung als Trost für die unzulängliche Welt:
Der Literat Wang Jiaxin. Ein kurzer Essay
In den 50er Jahren hieß es bei »uns« noch: Indianer kennen keinen Schmerz oder Jungen weinen nicht. Zuvor lautete die Spruchweise: hart wie Kruppstahl. Der chinesische Eisenmann, anscheinend notwendig für das Militär und für den Aufbau, wird momentan all überall aus Peking propagiert, wohingegen die Medien des Landes einen Softie als Ideal präsentieren, den man viel eher auf den Straßen antrifft.
Heute sind »wir« weder »Indianer« noch gefallen »wir« uns im alten Sinne als tränenlose Kerle. Auch »wir« sind »Weicheier « geworden und den Tränen nicht mehr abhold. Betrachten wir diese Entwicklung von Wang Jiaxin, dem Philosophen der Tränen, her erhalten wir alle, ob Mann oder Frau, ob aus chinesischen oder aus deutschen Landen, vielleicht manch überraschenden Aufschluß.
Doch wann hat unsere Geschichte der Tränen begonnen? Mit dem auch in China so einflußreichen »Werther« und mit der Mode des »Kettenweinens«? Schon möglich, aber da ist noch mehr. Ich möchte meine Erklärungen als »Gegner der Moderne« vereinfacht etwas exemplarischer fassen.
Da ist die alte Geschichte der Zehren, welche den Frauen überlassen wurde, wir können sie die Erzählung der Klageweiber nennen. Das Elend der Welt war leicht einsehbar und entsprechend
leicht zu beweinen. Das Heil lag in eines Gottes Händen und durch Buße in einer scheinbar unzulänglichen Welt allgemein zu erreichen.
Die neue Geschichte setzte ein, als die Versprechungen der Moderne auf eine allumfassende Erlösung nicht mehr hielten und unnötig menschliche Tragödien heraufbeschworen. Die Sowjetunion ist hier das offenkundigste Beispiel. Innerhalb von nicht einmal einhundert Jahren steht die Welt dort, wo sie die alte vermeintlich sah: am Abgrund. Aber dieser wurde ein neuer, weil er unsere Seele ergriffen und alle restliche Zuversicht vernichtet hat. Wir spielen lediglich den unwilligen Zeitzeugen.
Wir wurden vom fern scheinenden Abgrund nicht befreit, der wurde uns unter anderen Vorzeichen immer näher gebracht und weiter vertieft.
Wir hätten darüber hinwegsehen können, wenn wir nicht bei unserer Beobachtung selber gealtert wären und umso mehr Einsicht gewonnen hätten. Nicht nur die amerikanischen oder russischen
Präsidenten haben abgehalftert, auch die anderen »Friedensfürsten«, die sich deren Nachfolge erhoffen, bevor die auf gemeinsame Anstrengung setzende Politik der Seidenstraße den
Erdball befrieden wird. Bis dahin sind wir sechzig–, siebzigjährigen Dichter bzw. deren Übersetzer längst oder hoffentlich schon tot.
Die Welt ist endlich, wir sind endlich mitten in unserem Traum, so traut deutsch, so englisch lautend »Forever Young« (1984). Doch was wollen, sollen wir in diesem neuen Tal der Tränen, so unvertraut wie unwillig? Wang Jiaxin führt uns poetisch durch dieses Tal, das Tal unserer Väter und Mütter, das zu unserem eigenen wurde trotz aller Beschwichtigungen. Man kann ihnen nicht in jedem Fall einen Vorwurf machen, sie folgten vor uns all den seltsamen Versprechungen ihrer Zeiten, um uns Aussichten und Hoffnungen zu hinterlassen, damit wir meinen, eines Tages besser leben zu können. Inzwischen hat sich bewahrheitet, was die Dichter früh prophezeiten: Gut leben, besser leben? Überleben ist alles.
Unser chinesischer Literatus, geboren 1957 in der Stadt Danjiangkou (Provinz Hubei), wurde mit seiner Übersiedlung nach Peking (1985) zum großen Reisenden. Neudeutsch: »On the road, on the road again« bestimmte seine Lebensweise. Dies gilt für Orte wie für Länder, zu denen auch vielfach deutsche Ziele gehörten und gehören, dies gilt ebenso für seine vielen Lektüren, die ihn inzwischen täglich zur russischen und zur sowjetischen Literatur gleichsam heimkehren lassen. Immer galt und gilt sein Interesse der leidenden Natur als Prüfstein seines Schreibens und Übersetzens, allen voran Paul Celan (1920–1970), den er gerade (2021) in einer voluminösen Ausgabe herausgebracht hat. Er ist bei seiner Tätigkeit nicht nur zum vielleicht wichtigsten Vermittler ausländischer Literatur des 20. Jahrhunderts in China, sondern ebenfalls zum Großen Leidenden geworden, zum Meister der Tränen.
Die Erinnerung steht bekanntlich am Anfang aller Literatur: Wir gedenken der Ahnen, der Familie und schließlich unserer selbst im noch betrachtbaren Leben. Wer sich erinnert, erinnert sich an die Vergangenheit, an die Zeiten als unglückseliges Kind eines vermeintlichen Großgrundbesitzers zum Beispiel, aber was ist mit dem Heute, das morgen ein Gestern ist? Hier bietet sich die Form des Tagebuchgedichtes an. Sie erlaubt den schnellen Rückblick auf das persönliche Leben, sie schenkt
eine Fülle von Gedankensplittern zum Werk und zur Existenz der leidenden Kollegenschaft. Dabei fällt hier vor allem der Verweis eines chinesischen Lyrikers auf, der unter den wenigen chinesischen Namen überhaupt mehrfach genannt wird: Du Fu (712–770). Dieser Große Weinende der chinesischen Literaturgeschichte verkörpert wie kein anderer die Nöte in Leben und Werk eines Autors.
So beginnt das Jahrhundert des Schmerzes schon 1200 Jahre früher in China, wir hätten also menschheitlich auf ein Jahrtausend der Betrübnis zurückzublicken? Wang Jiaxin geht noch weiter über diese Zeitspanne hinaus: Vergil, Ovid, Dante, ansonsten Homer. So ist die Geschichte der Menschheit eine Historie der Bitternis, jedenfalls vom Blickpunkt der Literatur her gesehen?
Wenn ja, was gereicht uns denn da zum Trost? Vielleicht die poetische Rede als ein Gang durch die Schrecken der Jahrhunderte? Aber da ist noch etwas anderes, welches immer wieder aufblitzt: die Kunst der kleinen Dinge. In ihr findet sich die Chance zur Tröstung.
Viele Gedichte von Wang Jiaxin sind meditativer Natur. Sie kommen einfach daher, erzählen schlicht eine Geschichte, an deren Ende etwas aufblitzt. Früher habe ich den Verfasser den Dichter des Menschen genannt, jetzt möchte ich ihn als den Dichter des Moments bezeichnen, des Augenblicks oder der Erscheinung. Etwas taucht auf, ein Fußball, ein Sperling, ein Freund, eine Schneeflocke und wird zum Gleichnis. In einer lärmenden Welt, die von sich als die beste aller Zeiten spricht, rät die stille Musik von Johann Sebastian Bach zum Moment des Innehaltens, besonders in der Deutung der Goldberg–Variationen (1741) durch den kanadischen Pianisten Glenn Gould (1932–1986).
Im Gegensatz zu mir, der ich ein »chinesischer« Dichter bin, ist Wang Jiaxin ein europäischer, ein »deutscher« Poet. Ich berufe mich eher auf die Traditionen Chinas, er dagegen auf die des Abendlandes, so schrecklich deren Entwicklung im 20. Jahrhundert auch gewesen sein mag. Chinesischen Gepflogenheiten gemäß befindet er sich seit 2020 in Ruhestand. Die bekannte Hochschule des Volkes (Renmin Daxue) erlaubte ihm bis dato den Unterricht zur Poetik/Ästhetik und die verdienstvolle Organisation von nationalen öffentlichen Lesungen wie internationalen Veranstaltungen. Eine Hörerschaft von fünfhundert jubelnden Studierenden und Schreibenden waren die Regel. Ich kam oft in deren Genuß, besonders einmal als »poet in residence«.
Wer in Peking, der umtriebigen Hauptstadt einer mannigfaltigen Poeterei, das hübsche Altenteil genießen darf, der arbeitet nur noch wenig, er genießt und ruht sich auf seinem Ruhm aus. Das ist bei unserem Jiaxin (Neues Heim) nicht der Fall. Er schreibt, übersetzt, theoretisiert (Übersetzung als Erkenntnis, 2017) weiter. So stellte er mir am Vorabend seines Ruhestandes Ende Dezember 2019 ein Konvolut von 145 Seiten zusammen und bat um meine Auswahl. Das erste Gedicht trug die Jahreszahl 1987, die letzte Datierung stammte vom 14. Dezember 2019. Da ich aber den Dichter schon zweimal in Österreich (Thanhäuser:; Bacopa: ) herausgebracht hatte, entschied ich mich
für die von mir bislang nicht vorgestellte Periode: Meine Übersetzung begann mit dem gewaltigen Text (2017) zu Heidelberg (Konvolut, S. 62) und fuhr bis zum Ende (S. 145) fort (2019). Da ich zum Autor und Übersetzer bereits viel geschrieben habe, füge ich hier keine Bibliographie an. Man möge meinen weiterführenden Werkartikel in der digitalen Ausgabe von Kindlers Literaturlexikon einsehen (2020).
Dank bin ich Österreich zum dritten Mal und insbesondere Walter Fehlinger (Bacopa) zum zweiten Mal schuldig, denn ohne seinen Ansporn wäre diese dritte Übersetzung unseres »Pekingers « auf mein Altenteil verschoben worden. Dieses steht aber noch lange aus.
Mein letztes Bild von Wang Jiaxin auf Lesetournee mit mir (wohl im Herbst 2017): Er, erschöpft in Trier angekommen, ich lebenslustig. Wir auf dem Weg zum Geburtshaus von Karl Marx, er flucht, weil ihm der Fußmarsch von der Porta Nigra zu lang erscheinen will. Dann sein strahlendes Gesicht: Wir dinieren in einer exzellenten Weinstube gegenüber dem Kultort der Chinesen. Und er rennt plötzlich beschwingt herum und photographiert. Ich sitze lange allein mit meinem guten Moselwein. Ein geglückter Tag ohne Tränen, doch für uns beide galt weiterhin bei lokaler Speise, was Rio Reiser einmal kurz und bündig gesungen hat: Ich habe nachgedacht.
Wolfgang Kubin an der Universität Shantou
am Sonntag, den 18. Juli 2021
Verlag | [Firma Bacopa Verlag] |
---|---|
ISBN | 9783991140160 |
Auflage | 1 |
Sprache(n) |
Deutsch |
Ausführung |
Gebunden |
Erschienen | 2023 |
Seitenzahl | 96 |
Cover |
Hardcover |
Autor/in | Wang Jiaxin (Autor/in) , Wolfgang Kubin (Übersetzer/in) |