Zhan Dui - Geschmolzenes Eisen. Die Legende von Khampa

Von A Lai (Autor/in)., Wang Jing (Herausgeber/in)., Cord Eberspächer (Übersetzer/in)., Beidi Meng (Übersetzer/in). | 360 Seiten | Erschienen: 09. 11. 2021 | ISBN: 9783991140139 | 1.Auflage

Zhan Dui liegt in der alten tibetischen Region Kham. Heute ist es der Kreis Xinlong des tibetischen Autonomen Bezirks Garz in der chinesischen Provinz Sichuan. Die Tibeter dieser Region, die Khampas, waren schon immer besonders unerschrocken. Unter ihnen waren die Einwohner von Zhan Dui besonders für ihre Tapferkeit bekannt. Sie waren stolz darauf, wie aus Eisen zu sein.

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Inhaltsverzeichnis
Auf den Weg von Sichuan nach Tibet hatte es einen Zwischenfall gegeben, der eigentlich wenig bemerkenswert war: Eine Gruppe von 36 Personen wurde von Räubern auf Tibetisch Jag-Rkun überfallen. Es war damals nicht ungewöhnlich, wenn eine Gruppe beim Durchqueren eines so abgelegenen Gebiets ausgeraubt oder sogar getötet wurde. Dieser Zwischenfall aber wurde sofort an den Generalgouverneur der Provinzen Sichuan und Shaanxi Qingfu gemeldet, der die Nachricht unverzüglich an den Qianlong-Kaiser weiterleitete. Dieser Überfall war etwas Besonderes: Die Opfer der Jag-Rkun waren kaiserliche Soldaten.

Bemerkungen der Übersetzer von Cord Eberspächer und Beidi Meng
Dies ist ein ungewöhnliches Buch. Auf den ersten Blick handelt es sich um die Übersetzung eines chinesischen historischen Romans ins Deutsche. Das ist auch nicht falsch. Allerdings handelt es sich weder um einen Roman, noch behandelt der Autor A Lai hier ein chinesisches Thema, wie es der westliche Leser gewohnt sein mag.
 Wie der Autor selbst in seinem Vorwort schreibt, ist dieses Buch kein fiktiver Roman. Es ist auch keine historische Erzählung, denn nichts an dem Inhalt ist von A Lai erdacht worden. Es ist am ehesten eine Kompilation, also eine Zusammenstellung von Materialien, Fundstücken, Dokumenten und mündlicher Überlieferung, die A Lai anfangs nebenbei, später aber in unermüdlicher Kleinarbeit und gründlicher Recherche zusammengetragen hat. Wie der Autor selbst sagt, stieß er zufällig auf die Geschichte Zhan Duis, wurde von ihr immer mehr gefangen genommen und begann, ihre Spuren Stück für Stück freizulegen. Es war gar nicht notwendig, sich etwas auszudenken, denn die Geschichte erzählt sich selbst. A Lai hat die komplexe Aufgabe übernommen, sie auszugraben, in Form von Schriften und Zitaten sprechen zu lassen und sie so zu arrangieren, dass sie für den Leser in geschlossenes Narrativ ergibt. Dieser Prozess erfordert sicher nicht weniger Arbeit und Geduld, Kreativität und Fantasie wie das Verfassen eines richtigen Romans.
 Auf der anderen Seite ist Zhan Dui kein bloßes Geschichtsbuch. A Lai ist kein Historiker und erhebt auch nicht den Anspruch, hier eine wissenschaftliche Abhandlung vorzulegen - auch wenn das authentische Material dafür durchaus taugen würde. Der Autor nutzt seine Fähigkeiten als Erzähler und erschafft eine Geschichte aus der Realität. Dabei kann er sich größere Freiheiten als ein Historiker leisten und so webt er offizielle Dokumente wie den Schriftverkehr zwischen hohen chinesischen Beamten in Sichuan und dem Kaiser zusammen mit Fundstücken aus lokalen Chroniken und anderen Quellen und bereichert unser Bild von den Vorgängen um Zhan Dui durch Volkserzählungen und Legenden - unabhängig davon, ob sie nun wahre Geschichten transportieren oder nicht.
Wer gerne historische Literatur liest und vielleicht schon einmal zu Werken über die Geschichte Chinas oder Tibets gegriffen hat, wird grundsätzlich mit Land und Kultur vertraut sein. Aber üblicherweise herrscht in solchen Bänden Eindeutigkeit: Es geht um ein festgelegtes Gebiet, es geht um China. Oder Tibet. Oder vielleicht Hainan. Auf jeden Fall ist die Zuordnung eindeutig.
 Zhan Dui wie die ganze Geschichte Khams ist viel komplexer - und spannender.
 Es geht um eine Grenzregion. Kham ist tibetisch geprägt, gehörte aber zur chinesischen Provinz Sichuan. Das Besondere an dieser Region ist also in mehrfacher Hinsicht ihr Doppelcharakter: Sie gehört sowohl zu Tibet wie zu China und sie ist gleichzeitig für beide Kulturräume an der Peripherie.
 Das galt für Kultur und Sprache ebenso wie für die Verwaltung. Diese kulturell tibetischen Regionen Sichuans waren nicht in die normale Verwaltung eingebunden. Dies betraf nicht nur die tibetisch geprägten Regionen, sondern weite Teile der Provinzen in Chinas Südwesten. Weite Regionen in Provinzen wie Sichuan, Yunnan, Guizhou oder Guangxi gehörten zwar theoretisch seit Jahrhunderten zum chinesischen Kaiserreich, in der Praxis wussten die han-chinesischen Machthaber aber nur wenig über diese Gebiete und die Ethnien, die dort lebten. Sie waren weder militärisch noch verwaltungstechnisch zu kontrollieren, und somit führten die Vertreter der kaiserlichen Regierung ein System ein, das sich mit dem Prinzip des Indirect Rule vergleichen lässt, das besonders Großbritannien in vielen seiner Kolonien anwendete: Man versuchte gar nicht erst, die einzelnen Ethnien direkt unter Kontrolle zu bringen, sondern ernannte die Hauptleute zu Vertretern der Regierung, den Tusi. Das war eine höchst elegante Lösung: Erstens blieben die örtlichen Machtstrukturen unangetastet, aus Sicht der neuen Völker Chinas änderte sich wenig. Zweitens konnte sich die kaiserliche Verwaltung weismachen, eine befriedigende Lösung gefunden zu haben, ohne kostspielige Strukturen vor Ort, die ohnehin mit Waffengewalt hätten erzwungen werden müssen.
Das Tusi-System geht schon sehr weit in der chinesischen Geschichte zurück. Es hat seine Vorläufer im Jimi-System, das schon in der frühen Tang-Zeit eingerichtet worden ist. Der Begriff Jimi geht auf das Werk des chinesischen Historikers Sima Zhen zurück und bezeichnet einen Mann, der ein Pferd oder einen Ochsen an der Leine führt. So betrachteten die Tang-Kaiser auch die Anführer von fremden Völkern, die durch Eroberung oder Unterwerfung unter ihre Herrschaft gekommen waren. Für die Völker wurde das Jimi-System geschaffen, das parallel zur chinesischen Verwaltung bestand. Die unterste Stufe waren die Anführer oder Häuptlinge. Sie blieben einfach in ihrer alten Stellung, waren aber nun als besondere Beamte Untertanen der Tang. Sie waren eigenen Präfekten unterstellt. Auf Aufforderung hatten sie Dienste zu leisten, zum Beispiel mussten sie im Kriegsfall Truppen stellen, ansonsten blieben sie aber weitgehend unabhängig.
 Das Jimi-System war das Vorbild für den Umgang Chinas mit Völkern in eroberten Gebieten oder den eigenen Grenzregionen bis in die Zeit der Qing-Dynastie. Es wurde in vielen Gebieten Chinas angewendet. In der Zeit der Tang findet sich das Jimi-System in vielen Regionen, beispielsweise in den Khanaten im Gebiet der heutigen Provinz Xinjiang, bis in das moderne Afghanistan hinein, aber auch in den mongolischen Gebieten Richtung Norden. Hier war das Jimi-System praktisch die einzige Verwaltungsform. Dagegen bestand es im Süden und Südwesten Chinas, auch in Sichuan, parallel zu der normalen zivilen Verwaltung.
 Das Tusi, System, von dem wir so viel gehört haben, entstand unter der mongolischen Herrschaft, unter den Yuan-Dynastie. Es wurde unter den Ming und den Qing weitergeführt. Tusi bedeutet wörtlich einheimische Fürsten. Die Mongolen begannen dies System einzuführen, denn sie wollten nach der Eroberung Chinas auch die eroberten Grenzregionen schnell unter Kontrolle bringen. Die Ernennung der lokalen Anführer zu Beamten sorgte auf der einen Seite für die schnelle Einführung einer einheitlichen Verwaltung. Auf der anderen Seite wurden die Sitten und Gebräuche der betroffenen Gebiete nicht angetastet. Die Anführer blieben die gleichen und da der Titel des Tusi meistens erblich war, blieb auch die Folge der örtlichen Dynastien erhalten.
 Die Ming-Dynastie übernahm dieses System gerne, war es doch auch eine Form, relativ einfach Gebiete nominell unter Kontrolle zu bringen und in die Verwaltung einzugliedern. Das machte es möglich, auch weiße Flecken auf der Karte als stabile Gebiete der eigenen Herrschaft auszuweisen. Viele Regionen, beispielsweise im Südwesten Chinas, waren den Han-Chinesen völlig unbekannt. Von vielen Völkern in den Bergregionen in Guizhou, Yunnan oder Sichuan wusste die kaiserliche Verwaltung praktisch nichts, nicht einmal ihre richtigen Namen. Mit der Ernennung ihrer Häuptlinge zu Tusi konnte die kaiserliche Regierung sich in der Gewissheit wiegen, die Angelegenheiten im eigenen Reich geordnet zu haben.
 Doch unter den Qing geriet das System zunehmend ins Wanken: Zum einen gaben sich die Qing nicht damit zufrieden, große Gebiete ihres Reiches als weiße Flecken auf der Landkarte nur in der Theorie zu beherrschen. Das bedeutete auf der einen Seite das Sammeln von Informationen, so entstanden ganze Kataloge einzelner Ethnien in Chinas Südwesten, die in erster Linie unterschieden, ob diese Völker Chinas Kultur akzeptiert hatten oder gefährlich waren. Auf der anderen Seite bemühte sich die kaiserliche Verwaltung zunehmend um einen direkten Zugriff auf die Tusi-Gebiete und führte im Zweifelsfall auch Kriege, um Kontrolle und Ordnung (wieder) herzustellen. Dies resultierte noch unter der Regierung des Qianlong-Kaisers in einer Reihe von Kriegen, von denen auch in diesem Buch die Rede ist. Das Tusi-System geriet aber auch in die Krise, weil die traditionelle lokale Herrschaft sich als völlig unfähig erwies, sich politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Wandlungsprozessen anzupassen.
 Die einfachen Leute, Dorfbewohner oder Bauern, waren das Objekt der Beteiligten in diesem Spiel. Das ist das eigentliche Thema dieses Buches. A Lai bringt uns die Situation der Menschen in der tibetisch geprägten Grenzregion Sichuans nahe. Er macht dem Lesepublikum deutlich, wie sie erst zwischen machthungrigen Tusi und der kaiserlichen Macht zerrieben wurden. Im 19. Jahrhundert wurden sie dann zum Spielball im Tauziehen zwischen China und Tibet. Der Autor streicht deutlich heraus, dass sich zwar alle, von den Tusi über die chinesische Provinzverwaltung bis zu den tibetischen Statthaltern, um die Macht über eine Region wie Zhan Dui stritten, sich aber letztendlich niemand darum scherte, etwas aufzubauen oder zu entwickeln. Erst einige reformorientierte Beamte der späten Qing versuchten sich daran, ein Stück Moderne, wirtschaftliche Prosperität oder Bildung, auch nach Zhan Dui zu bringen.
Die Übersetzung von A Lais Roman Zhan Dui war in mehrfacher Hinsicht eine komplexe Aufgabe. Dies betrifft nicht nur die üblichen Herausforderungen, einen Text von einer Sprache in die andere zu übertragen und dabei nicht nur den Inhalt, sondern auch den Stil und die Stimmung zu erhalten und getreu dem Original wiederzugeben. In diesem Fall kommen die Art der Texte und der historische Hintergrund hinzu.
 Beginnen wir bei der Sprache: Ein chinesischer Text ist nicht wortwörtlich zu übersetzen. Dafür sind die Strukturen, ist die Grammatik beider Sprachen zu unterschiedlich. Ganz zu schweigen von Denk- oder Redefiguren, Metaphern, Sprichwörtern oder Vergleichen. Das heisst auch, eine Übersetzung aus dem Chinesischen ins Deutsche ist immer eher eine Übertragung. Dabei ist es nicht immer einfach, die Balance zu wahren. Es gibt Übersetzungen, die sich bemühen, möglichst nahe am Original zu bleiben. Das geht oftmals auf Kosten des Stils und der Lesbarkeit. Es gibt auch Übersetzungen, die sich vom Ausgangstext lösen und einen neuen Text schaffen, der der Leserschaft möglichst authentisch Inhalt und Geist des Originals vermittelt.
 Wir haben uns bemüht, einen Mittelweg zu finden und einen Text zu schaffen, der sich nahe genug am Original orientiert, um der Leserschaft A Lai nahe zu bringen. Der sich aber sich genügend davon löst, um einen gut lesbaren Roman im Deutschen herauszubekommen. Dazu haben wir den Text an einigen Stellen gestrafft und innerhalb der Unterkapitel einige Redundanzen entfernt.
 Einige Begriffe waren schwierig zu übersetzen, wir hoffen, dafür gute Lösungen gefunden zu haben. Ein Beispiel dafür ist der chinesische Begriff für England, Ying Guo (). Der chinesische Begriff wird universell verwendet und unterscheidet nicht zwischen England, Großbritannien oder dem Vereinigten Königreich. Der chinesische Begriff ist aber eindeutig phonetisch vom Begriff England abgeleitet, deshalb haben wir uns entschieden, diesen Begriff in der Übersetzung einheitlich als England wiederzugeben. Die Übersetzer sind sich im Klaren, dass dies historisch ungenau ist, es gibt aber unserer Ansicht nach die Ausführungen A Lais und die Zitate aus den Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts am besten wieder.
 Ein weiteres Beispiel sind die Festungen, von denen besonders in den ersten Kapiteln sehr viel die Rede ist. Die Berichte von den Feldzügen gegen Zhan Dui sprechen davon, dass immer wieder Dutzende solcher Burgen erobert oder zerstört worden seien. Ein Leser aus Mitteleuropa wird sich vielleicht wundern, wieso auf dichtem Raum derartig viele Burgen stehen konnten und wieso es so einfach war, sie einzunehmen eine europäische Burg musste ja mitunter monatelang belagert werden, bevor sie erstürmt wurde oder aufgab. Dazu muss man wissen, wie die Wohngebäude in den gebirgigen Grenzregionen zwischen China und Tibet aussahen. Jedes dieser Häuser war wie eine Festung, mit mehreren Stockwerken, die kaum Fenster aufwiesen, an den Berghang gebaut und damit gut zu verteidigen. Bei ihrem Vorgehen mussten die Qing-Armeen also immer wieder einen dieser Festungstürme nach dem anderen einnehmen ein mühseliges und oftmals blutiges Unterfangen.
 Ein besonders schwieriges Problem, das letztendlich nicht komplett zu lösen ist, sind die Namen von Personen und Orten. Der Roman von A Lai ist aus dem Chinesischen übersetzt, somit sind sämtliche Namen ebenfalls in Chinesisch. Umgekehrt handelt das Buch von einer tibetischen Region, dazu geht es teilweise um Tibet, Indien und England. Wir haben uns dafür entschieden, Namen wie Simla oder Younghusband in ihren jeweiligen originalen Schreibweisen wiederzugeben, da sie sonst für den deutschsprachigen Leser nicht zu identifizieren sind. Bei den Namen in und um Zhan Dui ist es schwieriger: Die Namen sind durchweg in Chinesisch auch wenn es stets eine Tibetische Entsprechung gibt. Wir haben uns schließlich für einen Kompromiss entschieden: Die tibetischen Namen werden auch auf Tibetisch wiedergegeben auch damit sie besser von den chinesischen Beamten und Militärs zu unterscheiden sind, die in diesem Buch vorkommen. Dagegen haben wir die meisten Ortsbezeichnungen in Pinyin, der heute üblichen Umschrift für Chinesisch, wiedergegeben. Immerhin handelte es sich damals wie heute und chinesisches Staatsgebiet - und die Ortsnamen, die wir hier wiedergeben, waren die offiziellen Ortsnamen in den Dokumenten der kaiserlichen Verwaltung.
 So sehr wir uns um Vereinheitlichung bemüht haben, in einem Fall haben wir eine Ausnahme gemacht: Zhan Dui. Andere Orte werden in Pinyin schlicht zusammen geschrieben, seien es nun CHengdu, Litang oder Zhanggu. Zhan Dui aber ist nicht nur die Hauptfigur des Buches, sondern auch gleichzeitig sein Titel. So erschien es uns sinnvoll, diesen Begriff auch in seiner Schreibweise von den anderen abzuheben zu deutlicher herauszustellen. Daher verwenden wir durch das ganze Manuskript Zhan Dui bzw. in den späteren Kapiteln Zhan Hua, anstatt einfach von Zhandui und Zhanhua zu sprechen, wie es der Konvention entsprechen würde.
Da dieses Buch vermutlich vor allem unter China- bzw. Tibetinteressierten auf Interesse stoßen wird, wir aber nicht voraussetzen können, dass die Leserschaft sich in allen Belangen mit speziellen Themen oder Begriffen auskennt, haben wir dem Band ein kleines Glossar beigegeben. Wir erheben damit keinen Anspruch auf Vollständigkeit, hoffen aber damit einen Beitrag zu leisten, sich zumindest die wichtigsten unbekannten Begriffe schnell zu erschließen.
Wir hoffen, einen guten Weg gefunden zu haben, um Ihnen eine Übersetzung zu bieten, die sich so dicht wie möglich am Original orientiert, aber ausreichend an ein hiesiges Leseverständnis angepasst ist, um eine lebendige und anregende Lektüre zu bieten. Möge Zhan Dui viele interessierte Leser finden!

Vorwort des Autors
Ich schreibe nicht über die Geschichte, sondern über die Wirklichkeit
 A Lai
Dieses Buch ist eigentlich ganz zufällig entstanden.
 Vor ein paar Jahren bereiste ich zahlreiche Orte in Tibet, um Material für mein Werk über das Gesar-Epos zusammen zu tragen. Während dieser zwei Jahre habe ich viele Geschichten gehört. Eine davon handelte von Zhan Dui. Diser Stoff ist zu einem literarischen Sachbuch geworden. Eigentlich wollte ich einen Roman daraus machen. Er sollte kurz werden, aber mit immer mehr Informationen, offiziellen Akten, Volkserzählungen und Dokumenten aus den Klöstern wurde das Material so umfangreich, daß man auch ein dickes Buch daraus machen konnte. Danach wurde mir klar, die ganze Geschichte ist schon so abwechslungsreich und die Realität so dramatisch, sonderbar und bemerkenswert, wie es ein Roman nur sein konnte. Ich brauchte nichts mehr hinzu erfinden. Die historischen Dokumente sind weit wirkungsvoller als ein Roman. So orientierte sich mein Schreibprozess dicht am Material und das Buch wuchs immer weiter.
 Nach meinen Erkundungen vor Ort stellte ich fest, dass die Geschichten über Zhan Dui nicht nur Volkslegenden sind. Es handelte sich um wirkliche geschichtliche Vorgänge und die Erzählungen haben vielfache Beziehungen zu Personen der Geschichte, wie beispielsweise dem Daoguang-Kaiser oder einem bekannten Beamten der Qing-Zeit, Qishan. Wer Chinas Geschichte studiert, weiß mit Sicherheit, dass es im ersten Opiumkrieg eine unterlegene Partei gab, und sie wurde von Qishan verkörpert. Er war ein hoher Beamter der Qing. Zuerst war er für den Krieg. Dann hatte er die Verhandlungen geführt und da er zu vielen Forderungen der Engländer nachgegeben hatte, wurde er vom Kaiser entlassen. Später hat der Daoguang-Kaiser ihn wieder rehabilitiert und als bevollmächtigter Minister für Tibet eingesetzt. Bald darauf wurde er Generalgouverneur von Sichuan. Als er auf dem Weg von Tibet nach Sichuan war, im heutigen Garz, begegnete er einer Gruppe Tibeter, die man Jiaba nannte. Sie haben die Chuan-Zang-Straße blockiert. Qishan wollte sie in die Knie zwingen, dadurch kam es zum Krieg der Qing-Regierung und der lokalen Tusi zur Unterwerfung Bolomans.
 Eigentlich bin ich ein Schriftsteller, der Romane, also fiktive Literatur, schreibt. Aber als ich dieser Geschichte folgte, entdeckte ich, dass diese reale Geschichte schon alleine so lebendig war, dass sie keiner zusätzlichen Fiktion mehr bedurfte. Wenn wir heute über wirkliche Probleme diskutieren, merken wir, auch ohne den Romanschriftsteller ist die Welt schon merkwürdig und absonderlich genug.
 Historische Studien dienen eigentlich dazu, über die Betrachtung der Vergangenheit ein Licht auf die Zustände der Gegenwart zu werfen. Was heutige Probleme mit den Minderheiten in China angeht, scheinen mir die Ursachen dafür, auch wenn sie zwei- oder dreihundert Jahre zurückliegen, erstaunlich identisch. Sogar die Methoden, wie heutzutage mit diesen Problemen umgegangen wird, und die Verwicklungen, die sich dazwischen abspielen, gleichen sich. Obwohl Zhan Dui nur ein kleiner Kreis ist, ist seine Geschichte genau so. Vor diesem Hintergrund hat die Geschichte sicher auch heute noch Bedeutung: Alle Geschichte ist Zeitgeschichte und hat ihre Auswirkungen.
 Deswegen meine ich, dies ist keine Beschreibung der Geschichte, sondern der Wirklichkeit. Mein Ziel ist zu beantworten: woher kommen die heutigen Probleme Tibets? Wie sind sie geworden? Ich möchte den Lesern etwas vom realen Tibet erzählen. Ich lebe in Tibet, schreibe seine Geschichte, aber meine Absicht richtet sich auf die Realität. Ich habe als Chinese den starken Wunsch nach Frieden und Stabilität für mein eigenes Landes und das Glück seiner Bevölkerung, egal zu welcher Ethnie ich gehöre,.
 Mein Buch verwendet Materialien aus ganz unterschiedlicher Herkunft: Dies sind zum einen die allgemeinen Darstellungen zur Geschichte der Qing und die amtlichen Dokumente der Dynastie, zum anderen Arbeiten zur lokalen Geschichte. Die Bedeutung dieser lokalen Geschichtsschreibung liegt darin, dass sie in vieler Hinsicht eine andere Sicht auf die Dinge hat als die offiziellen Dokumente. Noch interessanter sind oftmals die mündlichen Überlieferungen aus der Region, die wiederum andere Blickweisen aufzeigen. Darin stecken viele Details, die Geschichte erst richtig lebendig machen. Da es sich bei diesem Buch um kein fiktives Werk handelt, mögen solche Erzählungen vergleichsweise unbedeutend erscheinen. Aber genau solche Geschichten, wenn sie auch fiktive Legenden sein mögen, enthalten authentische Gefühle und Meinungen zu den großen Vorgängen der Geschichte aus Sicht der einfachen Bevölkerung. Und diese Volkserzählungen weisen noch eine weitere Besonderheit auf: Zu ein und derselben Angelegenheit kann es ganz unterschiedliche Geschichten und Versionen geben. Auch dies steht in meinem Buch zu lesen.
 Zudem haben derartige Erzählungen ihre eigene Ästhetik. Sie sind mitunter nicht so zuverlässig, aber lebendiger und schöner. Während ich an dem Buch schrieb, war ich in jedem Dorf und an jedem Kriegsschauplatz, der in den Geschichten vorkommt. Das war einfach zu bewerkstelligen und hat sich gelohnt. Ich habe dadurch eine gute Orientierung der Geographie dieser Gegend erlangt.
 Wenn jemand in der traditionellen tibetischen Kultur ein Buch schrieb, stellte der Autor seinem Text immer ein Gedicht voran. Darin standen die Absichten und Wünsche für das vorliegende Werk. Das hat seine Hintergründe auch im Buddhismus. Die Schreibstile haben sich bis heute immer wieder verändert, aber als ich mein Manuskript verfasste, hegte ich den Wunsch, in meinem Werk die beschriebenen Probleme auch aufzulösen. Wenn wir die Vielfalt der Kultur betonen, stellen wir schmerzenden Herzens fest, dass kulturelle Unterschiede zwischen den Völkern immer wieder Auslöser verschiedenster Auseinandersetzungen geworden sind. Ich wünsche mir, dass wir die kulturellen Konflikte lösen und uns gleichzeitig die bunte Vielfalt der Kulturen erhalten können.
 Bis heute hat sich an den materiellen Bedingungen und der Lebenswirklichkeit viel verändert, aber wenn wir auf Bauern, Dörfer und Gebiete von Minderheiten blicken, geht das Verständnis unserer heutigen Beamten nicht viel weiter als das eines Offiziellen der Qing-Dynastie, oft reichen sie nicht einmal an sie heran. Man kann sagen, dieses Buch spiegelt die Struktur unserer Gesellschaft: Wir können Zhan Dui als typische chinesische Dorflandschaft betrachten, das für so viele andere rückständige ländliche Gebiete Chinas steht.
 Zhan Dui ist zwar ein sehr kleines Gebiet, war aber seit der Qing-Zeit immer wieder in die großen Politik zwischen Han-China und Tibet verwickelt. Die tibetischen Probleme sind ursprünglich innenpolitische Schwierigkeiten Chinas. Sie wurden aber seit der Neuzeit zu internationalen Schwierigkeiten. Im Verlauf meiner Recherchen konnte ich feststellen, dass die Schwierigkeiten zwischen Han-China und Tibet längst nicht so einfach waren wie man üblicherweise zu wissen glaubt. Nicht alle Probleme liegen an den Beziehungen zwischen Han und Tibetern. Zwischen unterschiedlichen Völkern und Kulturen gibt es zahlreiche mögliche Ursachen für das Ausbrechen von Konflikten. Aber wir haben heutzutage eine simplere Denkweise: Sobald es in Tibet Probleme gibt, muss es an den Beziehungen zu China liegen. Ich verfasse dieses Buch auch in der Hoffnung, diese falschen Annahmen zu korrigieren und der Leserschaft ein besseres Verständnis vom Verhältnis von Han-Chinesen und Tibetern zu vermitteln.

Rezensionen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Literatur, Seite 10, 10. Februar 2022
"Oh, wie wenig schön war Tibet. Romantisierung ist seine Sache nicht: A Lai erzählt in dem Montageroman "Zhan Dui" die Geschichte von Unterdrückung und Widerstand seiner Heimat." Wolfgang Kubin

Verlag[Firma Bacopa Verlag]
ISBN9783991140139
Auflage1
Sprache(n) Deutsch
Ausführung Gebunden
Erschienen2021
Seitenzahl360
Illustrationenzahl360
Cover Hardcover
Autor/in A Lai (Autor/in) , Wang Jing (Herausgeber/in) , Cord Eberspächer (Übersetzer/in) , Beidi Meng (Übersetzer/in)